Out of Africa

Als Boris im 17. Oktober 1998 starb, plante er gerade intensiv eine Reise ins südliche Afrika. Am 14. besuchte er dazu noch ein Tagesseminar für Angestellte von Reisebüros. Es sollte eine sechswöchige Safari werden. Von Kapstadt in Südafrika über Kimberley, Taung und Gaborone durch die Kalahari ins Okavango-Delta in Botswana. Dann zu den Victoria-Fällen und über Lusaka, Sambia, das Rift-Valley hoch bis nach Tansania zum Serengeti-Nationalpark mit der Olduwai- Schlucht und dem nahen Ngorongoro-Krater. Die Gegend, wo der Ursprung der Menschheit sein soll und wo auch er schon einmal war - jedoch ohne sich daran erinnern zu können.

Die Reise wäre in einer kleinen Gruppe erfolgt, quer duch die Wildnis. Geschlafen hätte man in einem aufklappbaren Zelt auf dem Autodach. Es gab wohl keinen Weg, der Natur und den Tieren noch näher zu kommen. Wer ihn nur als Hacker kannte, wird überrascht sein, dass er auch sehr auf Tiere, besonders Geparden, stand. Diese Kätzchen haben es ihm nach mehreren TV-Dokus zu Anfang der 90er angetan. Sie haben ein putziges Äusseres, verhätscheln den Nachwuchs und sind in der Lage, aus dem Stand enorme Energien zu entfalten. Die Geschichte dieser schnellsten aller Landtiere ist etwas mysteriös. Sicher ist nur, dass ihre Population, wie die des Menschen, in den letzten 100000 Jahren mal auf eine Gruppe von nur wenigen Exemplaren geschrumpft war. Vieleicht gingen sie damals sogar mit Menschen zusammen auf die Jagd, wie es mit Falken oder Hunden noch heute üblich ist.

Diese Faszination für Geparden ist nicht so selten. Boris erzählte mal von einem Mann, der einige Zeit mit Geparden zussammen in der Serengeti lebte. Der damals noch nicht allzu bekannte Mann war Matto Barfuss. Heute gibt es von ihm schon eine TV-Doku, mehrere Bücher, Gemälde und eine Website: www.matto-barfuss.de Vermutlich hätte auch Boris versucht, etwas näher an seine Lieblingskätzchen ran zu kommen. (Den Tierchen und der eigenen Gesundheit zuliebe sollten das besser nicht allzu viele nachmachen.)

Um die Reise bequem dokumentieren zu können, bastelte er noch an einem GPS-Empfänger für sein Notebook. Der Zeitcode der Camera hätte sich so leicht mit der geographischen Position zusammenbringen lassen. So ganz konnte er offenbar auch in der Wildnis nicht von High-Tech lassen.

Die Idee für die Reise spukte ihm schon sehr lange durch den Kopf. Seine Eltern, beide Kollegen in der Tourismusbranche, machten 1971 mit Mitte 20 eine Reise nach Kenia. Damals war Kenia noch touristisches Neuland. Die Savanne, die Tiere und der schneebedeckte Kilimandscharo - eine Landschaft zum Verlieben. Ausser einer geschnitzten Maske und Flamingofedern brachte man auch Boris mit nach Hause und er wurde am 8 Juni 1972 in Berlin geboren. Boris' Eltern waren nicht miteinander verheiratet und sollten es auch nie werden. Für seine Mutter war die Schwangerschaft ein Geschenk, das sie glücklich machte. Sie war beruflich gut situiert, dem Leben gewachsen, wollte ein Kind und der Rest war zweitrangig. Auch sein Vater stand der Situation positiv gegenüber. Nicht ganz geplant, aber ein Wunschkind, konnte Boris sicher sein, sehr geliebt zu werden.

Die Mutter war eine weltoffene, intelligente und schlagfertige Berlinerin. Sie lieh sich schon als Kind von Freunden Karl May-Bücher, behielt für immer ein Faible für Bücher und wusste von Anfang an, dass sie einmal "Reisebüro" machen wollte. Der Vater, mit gepflegtem rot- braunem Vollbart eine beeindruckende redegewandte Persönlichkeit, stammte aus einem kleinen Dorf in Istrien und besuchte mit 16 die Hotelfachschule in Pula. Mit 19 ging er dann alleine auf eigene Faust ins ferne Deutschland, in das große Abenteuer seines Lebens. Er arbeitete in Reisebüros, als Reiseleiter und gründete in den 70ern in Berlin eine eigene Firma.

Boris Eltern verkauften nicht nur Reisen, sie genossen sie auch selbst. Und Boris ebenso: in den 70ern mit dem Wohnmobil durch Deutschland, Polen, Italien und Jugoslawien. Später, als es billiger wurde, per Flugzeug auch weiter weg. Boris war von klein auf zweisprachig. Ein perfektes Hochdeutsch und ein für Istrien typisches serbokroatisch mit leicht italienischem Einschlag. Damit war er auch in zwei Kulturen zuhause.




Das Dorf in den Hügeln

Für Boris' Aufwachsen bot diese Kombination aussergewöhnliche Perspektiven. In Berlin lebte er in der Hochhaussiedlung von Rudow, der Gropiusstadt. Eine modern konzipierte Trabantenstadt, die Gegend, wo die Großstadt Berlin am höchsten ist. Boris sprach zwar immer von Rudow, liess aber keine Kritik auf die Gropiusstadt kommen. Er fand die Kombination von Wohn-, Einkaufs- und Freizeitstätten ganz gut gelungen. Und mit dem Fahrrad war er in fünf Minuten schon in der Pampa Berlins, auf freien Feldern, wo noch Wildhasen und anderes Getier rumliefen.

Im Sommer war er meist in Pula, im Süden Istriens, als Kind häufig auch auf dem Bauernhof der Großeltern. Sie lebten in einem kleinen Dorf im Landesinnern. Eigentlich ist der Begriff Dorf schon fast zu groß für die lockere Ansammlung von wenigen Häusern. Die Gegend ist etwas hügelig mit einigen kleineren Bergen. Obwohl die Strassen seit den 70ern besser wurden, wird es wohl nie eine Touristenregion. Wer dort vorbeikommt, hat sich entweder verfahren oder wurde eingeladen.


Im Innern Istriens, Blick auf die Landschaft mit dem Dorf in den Hügeln. In einem der Häuser auf dem Bild wohnte Boris bei seinen Großeltern. Das Bild wurde von einem nahen Berg aus gemacht, von da, wo sich nun sein Grab befindet.

Aber diese Landschaft hat ihren besonderen Reiz. Eine Karstlandschaft, geprägt durch Felder, Wiesen und Weinbau. Der berühmteste Science- Fiction-Autor des 19. Jahrhunderts, Jules Verne, lies sich von ihr inspirieren. Bei einer Bergfestung, nur ein paar Kilometer entfernt, siedelte er eine seiner Geschichten an. Später schrieb er von Atom-U- Booten, Luftschiffen und dem ersten Flug zum Mond. Auch ein kaum bekannter früher Vater der Raumfahrt, der in Pula aufgewachsene Herman Potocnic, wurde durch die Landschaft Istriens geprägt. Im Jahre seines Todes, 1929, veröffentlichte er noch unter dem Pseudonym Hermann Noordung ein heute fast vergessenes Buch mit dem Titel "Das Problem der Befahrung des Weltraums: Der Raketen-Motor". Ein technischer Klassiker, besonders zum Thema Raumstation, mit dem sich die NASA intern noch in den 60er Jahren beschäftigte. Als Boris in Pula mal wieder von Raumfahrt schwärmte und sich mit einem Modell beschäftigte, bemerkte seine Mutter belustigt, es müsse wohl wieder Noordungs Geist über ihn gekommen ist.

Noch in den 50ern sollen die meisten Hänge in der Gegend mit Weinreben bepflanzt gewesen sein. Die Arbeit war jedoch so mühsam, dass bald immer mehr junge Leute abwanderten, um in der Industrie, den großen Städten und im Ausland ein leichteres und besseres Auskommen zu finden. Ein Prozess, typisch für Länder, die sich gut entwickeln, wie es auch mit ganz Jugoslawien wirtschaftlich zügig bergauf ging.

Da, wo früher Reben waren, sind nun Wiesen und lockerer mediterraner Kleinwald. Auf den eher kleinen Feldern gibt es wenig Getreide, mehr Kartoffeln, Mais, Paprika und Kürbisse. Auf den Wiesen in der Nähe des Dorfes sieht man Kühe, Pferde und Schafe, auf dem Hof Ziegen, Gänse und auch mal ein paar Schweine frei herumlaufen. Es riecht nicht nach Tieren, eher nach trockenem Gras, wilden Blumen und Harz, das die Bäume in der Hitze des Tages ausschwitzen.

Es gab in dieser Gegend die meisten Tiere, die Europa zu bieten hat, abends sogar Fledermäuse. Vieleicht waren es die kleinen Tiere auf den Wiesen, die den kleinen Boris zu einem großen Fan der "Biene Maja" machten. Die flog damals im TV und als wöchentliche Heftserie. War er in Pula, ging er an bestimmten Tagen immer ungeduldig zum Briefkasten. Aus Berlin liess er sich nämlich die Hefte runterschicken, um ja keine Folge zu verpassen. Und da er noch nicht lesen konnte, ging er dann auf die Suche nach einem Gönner, der ihm vorlas. So freundlich, wie er mit seinen großen braunen Teddybäraugen bitten konnte, fand sich immer wer dazu bereit.

Vermutlich war es die "Biene Maja", die ihn nicht nur Haustiere, sondern auch Insekten lieben liess. Nicht nur Schmetterlinge, auch Bienen rettet er vom Bürgersteig und selbst Spinnen davor, erschlagen zu werden: "Niiicht!!". Diese (fast) übertriebene Tierliebe kontrastierte aber deutlich mit seinen Vorlieben, wenn's ans Essen ging. Auf dem Bauernhof bestand er darauf, sich die Brathähnchen selbst auszusuchen. Er wählte immer welche mit braunen Federn und konnte es gar nicht erwarten, bis sich das dümmlich gackernde Federvieh in einen herzhaften Broiler verwandelt hatte.

Ähnlich war er auch in Fischrestaurant in Pula. Er genoss es, sich die Fische im Aquarium selbst auszuwählen, ehe sie für den Teller bereitgemacht wurden. Was den Geschmack von Fischen anging, wurde er fast zum Experten. Aber ansonsten stand er auf Fleisch, er konnte später sogar zwei gute Steaks hintereinander verdrücken, ohne jede Reue. Diese pragmatische Einstellung zum Essbaren ist wohl auf die Großeltern zurückzuführen. Sie erklärten ihm alles auf dem Bauernhof.

Die Beziehung von Bauern zur Natur ist aber sehr auf Nutzen bezogen, herb, mitunter gar brutal. Die Katzen durften nicht ins Haus ("Boris, die hast du in Pula zu verwöhnt, die will ständig rein..."), Hühnchen wurden mal nebenbei geschlachtet und zu Ostern schätzte man die Zartheit der Lämmer - auf dem Teller. Offenbar haben die Großeltern klar gemacht, dass diese Tiere nur zum Nutzen des Menschen existieren: Macht man Katzen zu Schmusetieren, verlernen sie, Mäuse zu jagen, und wenn man mal nicht da ist, leiden und hungern sie. Hühnchen und Fische haben sowieso nur eine begrenzte Lebenszeit. Ehe sie an Altersschwäche leiden und unter Schmerzen zugrundegehen, ist es ihnen sicher lieber, nach schmerzlosem Ende dann im Backofen ihre Ernährer zu erfreuen. Schliesslich konnte ihr Minihirn ohnehin nur ans Fressen denken... Schon als Kind gestaltete sich so Boris' Beziehung zu Pflanzenfressern. Nur beim Lamm verging ihm der Appetit, Spielgefährten isst man nicht...

Gerade in diesen Lehrstunden am Bauernhof zeigte sich auch, dass er schon früh bevorzugt logisches, ihm einleuchtende Wissen übernahm und anderes, was ihn nicht überzeugte, strikt ablehnte. Denn die Großeltern betrieben auch Weinbau und kelterten selbst. Obwohl sie stolz auf ihren guten Tropfen waren, blieb Boris aber ziemlich strikter Anti-Alkoholiker. Selbst den in Istrien üblichen Begrüßungswein lehnte er ab. Mancher mag das als Unhöflichkeit empfunden haben. Boris betrachtete aber den Alkohol als Unsitte, und dazu hatte er guten Grund.

Menschen mit genetischer Veranlagung dazu können bereits nach wenigen Gläsern einer immer mehr zunehmenden Sucht verfallen. Trotz moderner Legenden ist an Alkohol nichts positives. Und die negativen Seiten hat Boris schon als Kind deutlich gesehen - an den Eltern eines Freundes in der Grundschule. Boris sprach kaum darüber. Aber wenn, dann war aus seinem Gesicht der Horror, den er dort mit ansah, deutlich sichtbar. Vermutlich hätte es bei ihm nicht dieses Kindheitserlebnis gebraucht, um seine Meinung zu formen. Aber für einige Kinder wäre eine frühe und drastische Aufklärung über die Effekte von Alk und Tabak wohl das einzige, was sie vor diesem Siechtum bewahren könnte.

Die Beziehung zu den Großeltern litt darunter offenbar nicht. Er scheint allgemein ältere Leute mit besonderem Respekt behandelt zu haben. Man konnte von ihnen manches erfahren, was jüngere nicht wussten und in Büchern meist auch nicht stand. Vielleicht lag es auch daran, dass er nicht nur in Istrien mit den Großeltern zusammen war. In Berlin wurde er nachmittags von seiner Oma betreut, wenn er um 13 Uhr Schule aus hatte bis seine Mutter gegen 18 Uhr vom Reisebüro kam. Für diese Berliner Oma war Boris ein großer Schatz. Man merkte deutlich, wie stolz sie auf ihren Enkel war, wenn sie mal, zu Besuch in Haus 42, über ihn erzählte.


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